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Der “demokratische” Tod

In Deutschland haben laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2013 10.076 Menschen Suizid begangen. Noch heute zählt Selbsttötung zu einem Tabuthema in der Gesellschaft, obwohl es mehr als ein Prozent der jährlichen Tode ausmacht. Im Interview erklärt die Leipziger Diplom-Psychologin Simone Heine, wie Angehörige und Freunde reagieren können, falls Menschen in ihrer Nähe Anzeichen für eine Gefährdung zeigt.

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Franziska Mayer: Ist in unserer Gesellschaft Suizid immer noch ein tabuisiertes Thema?

Simone Heine: Natürlich. Durch viel Öffentlichkeitsarbeit wird die Situation aber besser. Es gibt zum Beispiel eine Anzahl hilfreicher Internetseiten, Bündnisse mit berühmten Schirmherren oder TV-Dokus mit ehemaligen Betroffenen, die einen Suizid überlebt haben, und hinterlassenen Angehörigen.

Simone HeineWas kann man machen, wenn man bei Freunden/Angehörigen Suizidgedanken bemerkt?

Leider ist es selten, dass Betroffene Suizidgedanken offen äußern, da sie sich schämen oder die Gefahr selbst nicht erkennen. Anzeichen sind aber, dass suizidale Menschen hoffnungslos wirken, Sätze wie „alles ist sinnlos“ und „ich kann nicht mehr“ äußern, sich zurückziehen und Interessen und Aktivitäten aufgeben. Er „ordnet seine Angelegenheiten“ und wirkt manchmal „plötzlich gefasst und ruhiger“ – die Ruhe vor dem Sturm – weil ein Entschluss, sich das Leben zu nehmen, etwas kurzfristig Entlastendes haben kann. Meist wird die Gefahr verkannt, weil man fälschlicherweise annimmt, dem Betroffenen gehe es besser.

Generell muss ein Profi die Lage einschätzen, daher sollte der Angehörige den Betroffenen ernst nehmen, ihm Hilfe anbieten und den Betroffenen motivieren, sich Hilfe zu suchen, meistens ist das der vertraute Hausarzt oder wenn vorhanden der behandelnde Psychiater oder Psychotherapeut. Bei akuter Suizidalität erfolgt eine stationäre Aufnahme im geschützten Setting bis der Betroffene sich von akuten Suizidgedanken distanzieren kann.

Man kann sich auch direkt in der Klinik melden (psychiatrische Notfallambulanz oder direkt auf Station). Das alles setzt Kooperation des Betroffenen voraus. Sollte jemand nicht kooperieren und bereit sein, gemeinsam schnell Hilfe zu suchen, muss man den Notruf wählen.

Welche Krankheiten sind von suizidaler Gefährdung besonders „betroffen“?

Krankheiten wie Depressionen, Schizophrenie, bipolare Störungen, Sucht und Persönlichkeitsstörungen erhöhen die Gefahr für einen Suizid. Andere Risikofaktoren sind Suizidversuche in der Vorgeschichte der Betroffenen oder in der Familiengeschichte, aber auch Verherrlichung von Suizid in den Medien (der sogenannte Werther-Effekt) und plötzliche Isolation und Vereinsamung besonders bei alten Männern nach Verlust der Partnerin. Weitere Gefährdung entsteht durch Drogenproblematik, Arbeitslosigkeit, Partnerschaftskonflikte, Schulden, chronische Erkrankungen oder Trennungen/Scheidungen, biologische Katastrophen und existenzbedrohende Situationen (nicht nur materielle, sondern auch narzisstische Kränkungen).

Würdest du Angehörigen empfehlen, psychologischen Beistand zu suchen, vor und nach dem Suizid einer bekannten Person?

Unbedingt! So kann man fachkundige Auskunft über die aktuelle Lage bekommen. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass ein Angehöriger mit der Problematik überfordert sein könnte und es für ihn schwierig ist, das Erlebte emotional einzuordnen und zu bewältigen – besonders im Familienkreis oder wenn es sich um enge Partner/Freunde handelt. Außerdem kann bei bestimmten Voraussetzungen ein Suizid im engeren Umkreis das Risiko eigener Suizidalität erhöhen. Es gibt ambulante Hilfen wie psychosoziale Beratungsstellen, Bündnisse (z.B. Bündnis gegen Depression hier in Leipzig) oder entsprechende Selbsthilfegruppen, wo man Menschen findet, die ähnliches erleben und man sich weniger alleingelassen fühlt.

Ist die Trauer nach einem Suizid anders als zum Beispiel nach einem Unfall?

Zu Trauer können noch Selbstvorwürfe hinzukommen, zum Beispiel die Verzweiflung nicht gesehen oder einen Hilferuf verkannt zu haben. Manchmal empfinden Angehörige jedoch auch Wut auf den Menschen, der Suizid begangen und seine Freunde und Familie zurückgelassen hat. Es ist besonders schwierig für Angehörige, mit dieser Emotion umzugehen, da Wut auf Verstorbene in unserer Gesellschaft tabuisiert ist.

Suizid wird manchmal als „demokratischer Tod“ bezeichnet, da er Menschen aller sozialen Schichten und Altersgruppen betrifft. In unserer Gesellschaft ist es aber immer noch ein Thema, über das ungern gesprochen wird. Angehörige sollten aber keineswegs mit ihrer Trauer allein gelassen werden, wie dieses Interview zeigt, sondern selbst psychologischen Beistand erhalten. Ein offenerer Umgang mit diesem Thema in der Öffentlichkeit ist zwingend erforderlich und wird von zahlreichen Gruppen angestrebt.

 

(Interview: Franziska Mayer / Foto: privat)

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