SüdenWeltenbummler

In Kenia kennt das Glück keine Uhren

Ich sitze in meinem Zimmer in Kenia und lerne Physik. Wenn ich ehrlich bin, lerne ich nicht wirklich, ich versuche, die Lösungen der Altklausuren auswendig zu lernen. Und das Zimmer ist auch nicht nur mein Zimmer. Es gehört noch Karinga, Eunice und Caro, meinen drei kenianischen Mitbewohnerinnen.

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Das zweite Semester studiere ich jetzt an der Jomo Kenyatta University in der Nähe von Nairobi. In zwei Wochen fangen die Examen an. Das ist die Zeit, in der alle Professoren feststellen, dass wir noch Zwischenprüfungen schreiben müssen und längst nicht den gesamten Unterrichtsstoff behandelt haben. Das sind die einzigen Wochen im Jahr, in denen an der Uni ein Hauch von Stress spürbar ist.

Ich wohne auf dem Campus in einem kleinen Zimmer mit zwei Hochbetten, zwei Schreibtischen und vier schmalen Schränken. In diesem Zimmer wird gelebt, gelernt, gekocht, geschlafen und gelacht. Gerade versuche ich zu lernen, Caro kocht auf einer elektrischen Platte am Boden, Karinga schläft und Eunice sitzt mit einer Freundin auf dem Bett und lacht. Wenn ich die drei betrachte denke ich, dass wir alle dabei ausgiebig leben. Nachdem mal wieder zwei Mädchen ins Zimmer kommen, um nach Notizen, Altklausuren, Handyladegeräten, einem Bügeleisen oder Ähnlichem zu fragen, gebe ich das Lernen auf. Morgen ist auch noch ein Tag, soviel habe ich hier auf jeden Fall gelernt. Stattdessen gehe ich lieber mit meiner Thermoskanne ins Zimmer nebenan, um mit einer Freundin Tee zu trinken, uns zu beschweren, wie unglaublich viel wir zu tun haben und dabei stundenlang zu quatschen.

Studium in Kenia

Meine ersten Wochen in Kenia

Nur zu gut erinnere ich mich noch an die ersten Wochen, in denen ich mich geärgert habe, wenn meine Mitbewohner meine Sachen benutzt haben, in denen ich noch nicht bei Licht und Musik schlafen konnte. Zu dieser Zeit kam ich noch pünktlich zum Unterricht, um nach einer Stunde warten festzustellen, dass der Unterricht heute wohl nicht mehr stattfinden wird. Jeder Tag war aufregend und anders. Meine Mitstudenten sahen für mich noch alle fremd und gleich aus. Ich war für jeden nur die Mzungu, die Weiße.

Jetzt ist das Meiste Normalität geworden. Ich kenne viele meiner Kommilitonen besser, viele mag ich gerne, manche weniger und mit manchen verbindet mich eine enge Freundschaft. Mit der Zeit fanden wir heraus, dass wir alle ähnliche Wünsche, Träume und Sorgen haben. Wir lernen voneinander, ich bekomme Gelassenheit und gebe ein wenig Direktheit und Zielstrebigkeit. Aber bis es soweit kam war es ein langer, spannender und anstrengender Weg.
Jeden Tag höre ich so viele Geschichten, Geschichten aus einer fremden Welt. Es sind Geschichten von Alltagsproblemen und schönen Erlebnissen, Geschichten aus einer grauen und einer bunten Welt, die hier nebeneinander leben – oder vielleicht doch miteinander? Diese Welt ist für alle um mich herum Alltag und ich versuche, die Geschichten wie Puzzleteile zusammenzusetzten und mit den Geschichten, die ich von Zuhause kenne zu verbinden. Von Tag zu Tag wird die Welt auch für mich immer mehr Alltag. Ich gehe in den Unterricht, habe herausgefunden, welche Professoren pünktlich bzw. welche überhaupt erscheinen.

Am Abend gehe ich zum Netzballspielen oder ins Schwimmtraining und alles, was dazwischen passiert, ist bestimmt von Begegnungen mit Freunden und Bekannten. Kurze Begegnungen auf dem Weg scheinen viel wichtiger als in Deutschland zu sein. Es wäre unhöflich nicht anzuhalten, um herauszufinden, ob es dem anderen gut geht. Dafür ist auch in der größten Eile Zeit. Kenianer sehen sich als Teil einer Gemeinschaft, ihres Dorfes, ihrer Klasse, ihrer Familie oder ihres Stammes. Dass jeder ein Individuum wie kein anderer ist, spielt eine untergeordnete Rolle. Individualismus wird in manchen Teilen mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht.

Einfach mal die Zeit miteinander genießen

Wie zu Hause auch, gibt es einige Menschen, die ich gerne ständig um mich habe. Mit ihnen verbringe ich viel Zeit. Diese Zeit wird aber nicht geplant (und verplant), wie ich das aus Deutschland kenne. Stattdessen schaut man einfach im Zimmer des Freundes vorbei oder ruft kurz an. Wenn der Freund gerade da ist, ist es schön, wenn nicht, ist es nicht schlimm. Das Planen habe ich zum großen Teil aufgegeben, auch wenn ich ganz aus meiner (deutschen) Haut nicht rauskomme. Meine Uhr habe ich schon lange abgelegt, es reicht, wenn ich ungefähr weiß, wie spät es ist. Und das Glück kennt keine Uhren, es kommt und geht, wann es will. Manchmal auch wann ich es will.

Mein Zimmer ist trotz drei Mitbewohnerinnen zu einem Rückzugsort geworden. Ich kann mir kaum mehr vorstellen, in Deutschland alleine in meinem großen Zimmer zu wohnen. Wer fragt mich dann wie mein Tag war, von wem höre ich witzige oder traurige Geschichten, wen kann ich Fragen, wenn ich gerade keinen Stift habe und wer bringt mir Frühstück von den Shops mit, wenn ich selbst nicht gehen will? Wer macht um 3 in der Nacht das Licht an und fängt das kochen an, während ich schlafen will und wer weckt mich um sechs Uhr morgens, um mich zu fragen, wo ich meine Kopfhörer habe, da sie irgendjemand gerade braucht. Das Leben ist unmittelbarer und nicht so schön austariert, ich lache täglich und ärgere mich aber auch fast täglich.

Studium in Kenia
Jeden Tag treffe ich Menschen, die ich noch nie gesehen habe und die auch mich noch nie gesehen haben. Natürlich nennen sie mich Mzungu, für sie bin ich noch keine Person, nicht Paula, Mwende, Atieno, Wambui, oder einer der vielen anderen Namen, die mir hier gegeben wurden. Oft kann ich darüber lachen und habe die Energie ihnen zu sagen „siitwi Mzungu“ – ich heiße nicht Weiße. Manchmal bin ich aber einfach nur genervt und denke mir, ich bin doch kein Gast mehr hier, ich lebe hier. Aber ich bin anders, ich sehe nicht nur anders aus. Ich verhalte mich anders, für manche hier muss es ein komisches Verhalten sein. Ich konnte nicht richtig mit den Händen essen und hing meine Wäsche anders auf wie Kenianer, abgesehen davon, dass ich erst lernen musste, wie man seine Kleidung mit den Händen wäscht.

Das Privileg der Europäer

Es gibt noch eine andere Seite des Andersseins. Sie ermöglicht es mir, ohne Studentenausweis am Wächter vorbeizukommen oder im Bus den besten Sitzplatz zugewiesen zu bekommen. So praktisch das ist, so unangenehm ist es auch. Zuhause bin ich sicher nicht reich, aber hier muss ich mir über Geld keine Gedanken machen. Ich kann zurück nach Europa gehen, wann immer ich es will. Europa – das Paradies, in das hier viele wollen. Das Europa, das die meisten Kenianer nur aus dem Fernsehen kennen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, diese Privilegien zu haben. In solchen Momenten bin ich es müde, anders und privilegiert zu sein. Dann möchte ich mich zu den Frauen an den Straßenrand stellen und gerösteten Mais oder Mangos verkaufen. Möchte, dass wir alle grau sind. Nicht schwarz und weiß, einfach nur grau.

Mir werden seltsame Fragen über dieses Europa gestellt. Sind alle Menschen in Europa glücklich und reich? Stimmt es, dass ihr euch so verliebt, dass einem der Stift runter fällt, der andere ihn aufhebt und wenn man sich dabei in die Augen sieht, ist man für immer verliebt? Gibt es bei Euch auch Bauern?
Ich traf eine Kenianerin, die ein paar Wochen in Norwegen war. Sie erzählte mir erstaunt von Mülltrennung, pünktlichen Bussen und schnell laufenden Menschen auf komplett sauberen Straßen. Sie erzählte von schlechten Nachrichten aus Ostafrika, die sie in Norwegen im Fernsehen gesehen hatte. Besorgt fragte sie sich, was denn Zuhause los sei. Zurück in Kenia stellte sie fest, dass alles wie immer war. So liegen die verzerrten Bilder, die Europäer von Afrika und Afrikaner von Europa haben, vor mir. Wenn auch von der Physik nicht so viel bleibt wie nach einem Jahr an meiner deutschen Uni, konnte ich mein verzerrtes Bild von Kenia ein wenig gerade rücken und hoffentlich die Vorstellungen der Kenianer von Deutschland erweitern.

Wie westlich will und soll Kenia sein?

Nicht nur ich stecke irgendwo zwischen den Kulturen, auch die Kenianer sind gefangen. So westlich wie möglich wollen sie sein und sind dabei doch noch an ihre Traditionen gebunden. Viele Frauen wollen zum Eis essen ausgeführt werden, aber ohne die Bezahlung eines Brautpreises von mindestens fünf Kühen wollen sie nicht heiraten. Westlich sein, das ist das große Ideal. Viele Wünsche werden vom Fernsehen erst geweckt. Doch ganz haben die westlichen Vorstellungen noch nicht die Oberhand gewonnen. So ist es immer noch ein Schönheitsideal nicht zu dünn zu sein und die eigenen Eltern bekommen mehr Respekt als Freunde oder die Partnerschaft.

Vieles von der kenianischen Mentalität verstehe ich immer noch nicht, aber ich hinterfrage es weniger. So hatte ich ein sehr sorgenfreies Jahr, in dem ich fast das Leben einer kenianischen Studentin leben durfte, nur dass es für mich wohl viel aufregender war wie für eine Kenianerin.

Bald werde ich diesen Ort wieder verlassen. Auch meine Kommilitonen werden in ein paar Wochen fertig werden und wollen arbeiten. Doch mit Physik wird wohl kaum jemand einen Job bekommen. Die Wirtschaft dieses Landes wächst rasend, und doch gibt es kaum neue Jobs. Immer wieder kommen politische und soziale Rückschläge, die das Wachstum dämpfen. Seien es terroristische Anschläge oder der Ebola Ausbruch in Westafrika. Dass Kenia weiter weg ist von den „Ebola-Ländern“ als Spanien, scheint Touristen nicht zu interessieren. Tausende stornierten ihre Flüge und so schrumpft eine der wichtigsten Einnahmequellen. Wie unnötig wäre es, wenn jetzt, im Moment der Aufbruchsstimmung und der Zuversicht, die in Kenia herrscht, Ebola den ganzen Kontinent isoliert.

Waescheleine in Kenia

Das Leben in Kenia

Doch die meisten Studenten sind zuversichtlich, dass sich schon etwas ergeben wird. Sie sind ausgestattet mit einem bewundernswerten Talent an Improvisation und der Gabe mit Widrigkeiten fertig zu werden. Gut ist es, wenn sie jemanden kennen, der jemanden kennt, der jemanden kennt… der einen Job für sie vermittelt. Die Hoffnung ist hier so grün wie weite Teile des Landes. Doch je weiter man in den Norden kommt, desto gelber wird die Hoffnung, desto trockener das Land und desto größer die Probleme. Vielleicht steht grün hier auch nicht für Hoffnung, sondern für Korruption. Polizisten in Uniformen, die in meiner Erinnerung grün und hoffnungslos sind, halten Matatus (Sammeltaxis) an. Hände werden geschüttelt. Dabei wechseln 50 Shilling den Besitzer. Es kann weiter gehen. Um einen Antrag nicht erst im nächsten Jahr bearbeitet zu bekommen, oder ihn ganz verschwinden zu sehen, sollte man die richtigen Leute kennen, dem richtigen Stamm angehören oder aber das nötige Kleingeld beisteuern. Es gibt so viele gute Ideen und Projekte, die durch Korruption und Tribalismus erstickt werden.

Ich traf eine andere Deutsche, die völlig irritiert vor mir stand weil eine Freundin, eine Kenianerin, gefragt hat, ob sie ihr nicht ihren Schal geben will. Ich muss lachen, doch dann stelle ich verwirrt fest, dass ich die Denkweise des getrennten Meins und Deins kaum mehr nachvollziehen kann. Ein Teil meiner eigenen Kultur ist mir fremd geworden. Vor einigen Monaten haben mich diese Begegnungen auch noch vor den Kopf gestoßen. Jetzt nicht mehr – dafür bin ich dankbar. Vor meinen Augen verschwimmt alles zu einem bunten Farbbild. Kenia ist für mich so vielseitig und bunt wie die Wäsche, der ich zufrieden vom Balkon aus beim Trocknen zusehe. Zufrieden, weil ich sie mit meinen eigenen Händen gewaschen habe. Dahinter laufen Studenten auf und ab. Sie scheinen ohne Ziel zu gehen, nur des Gehens willen. Ohne die beschwerenden Gedanken, was sie heute noch alles erledigen müssen. Auf meinem Balkon bin ich unsichtbar. Einer der wenigen Momente, in denen wir alle grau sind, nicht schwarz, nicht weiß. Der Abschied wird kein leichter werden. Die Vergänglichkeit zu lieben, das muss ich noch lernen.

Kenia hat viele Gesichter. Natürlich gibt es Teile ohne Strom, trockene Gebiete ohne genügend zu Essen und Dörfer ohne richtige Schulen. Aber auch Kunst und Wirtschaft gehört zu Kenia. Wenn ich im Juni, wenn es in Kenia kälter und grau wird, in einem der schicken Cafés in Nairobi Menschen mit Kostümen und Anzügen vorbeihetzen sehe, könnte das Zuhause sein. Die Menschen, die ich sehe gehören zu einer Gruppe, die nicht in das westliche Bild des hoffnungslosen Kontinents passen: zur Mittelschicht. Wahrscheinlich tragen sie nicht nur Verantwortung für sich und ihre Kleinfamilie sondern ihre ganze Verwandtschaft in den Dörfern weit weg von Nairobi.
Jemand anderes würde ganz andere Erfahrungen machen, als ich sie gemacht habe. Jemand anderes würde ganz andere Dinge lernen, als ich sie gelernt habe. Jemand anderes würde ganz andere Geschichten erzählen, als ich sie erzähle. Das ist nur eine einzige Sicht auf Afrika, und nicht auf Afrika, auf Kenia, auf die Jomo Kenyatta University bei Nairobi.

(Text und Fotos: Paula Aschenbrenner)

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