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„Auschwitz war auch auf diesem Planeten”

Verbrecher gehören vor Gericht, das galt auch für die Nazis, findet Michael Goldmann-Gilead. Für ihre Taten kann es keine Rache oder Wiedergutmachung geben. Trotzdem ist es ihm wichtig, die Wahrheit über den Holocaust ans Licht zu bringen.[divide]

back view: Herr Goldmann-Gilead, war es für Sie als Überlebender von Auschwitz wichtig, dabei zu sein, wenn einer der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wird?
Michael Goldmann-Gilead:
Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet, aber war natürlich einverstanden. Ich wurde ausgewählt, weil ich Deutsch sprechen konnte und den Holocaust miterlebt hatte, also wusste, was vorgefallen ist. Diese Arbeit war für mich leichter, als für jemanden, der gar nichts wusste und von Eichmann nur Einzelheiten bekommen wollte. Aber ich war stolz, zu dieser Einheit zu gehören.
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Infobox:
Der Auschwitz-Überlebende Michael Goldmann-Gilead (heute 85) sammelte im Prozess gegen Adolf Eichmann Beweise und verhörte den ehemaligen SS-Mann. Eichmann, der im sogenannten Dritten Reich die Deportation der Juden in die KZ’s gesteuert hatte, wurde 1962 in Israel hingerichtet.

 

Manche Israelis wollten damals Rache und waren gegen den Prozess. Warum hatte der Massenmörder Eichmann trotz allem ein faires Verfahren verdient?
Niemand dachte daran, anhand von Eichmann Rache zu nehmen, er war nur einer. Meiner Meinung nach gibt es keine Menschenrache, für das was uns passiert ist. Nur Gott kann dafür Rache nehmen. Es ging nur darum, einem Kriegsverbrecher den Prozess zu machen, damit er seine gerechte Strafe bekommt.

Also war Eichmann ein Verbrecher, wie viele andere?
Goldmann-Gilead: Er war einer der größten. Eine der nicht nur mitgemacht hat, weil er Befehle bekommen hat, sondern mit viel Genugtuung. Er war ein ausdrücklicher Judenhasser und mit seiner Aufgabe zufrieden, vollkommen zufrieden. Dass er Befehle ausführen musste, war nur eine Ausrede.

Wie war es für Sie, Eichmann gegenüber zu sitzen, zu wissen was er getan hat, und er lügt Sie an?
Goldmann-Gilead: Für mich war das nichts Persönliches. Eichmann war offiziell nur ein Verdächtiger, ich sah in ihm keinen Teufel. Er war auch ein Mensch. Die Nazis waren auch Menschen, sie kamen nicht aus der Hölle oder vom Himmel herunter. Eichmann war ein normales Kind, erst später wurde er dann, was er wurde. Es war kein anderer Planet, auf dem die Nazis gelebt und gemordet haben. Es war derselbe Planet – auch Auschwitz war auf diesem Planeten.

ausschwitz2Welche Bedeutung hatte der Eichmann-Prozess in der Geschichte Israels?
Er war sehr wichtig, besonders für unsere Jugend. Die Kinder wussten fast gar nichts über den Holocaust. Man hat nicht viel darüber gesprochen. Der Mossad hätte Eichmann auch einfach liquidieren können, aber man wollte diesen Prozess, damit die Öffentlichkeit erfährt, was passiert ist.

Sie waren einer von zwei Zeugen bei Eichmanns Hinrichtung. Was fühlten Sie, als alles vorbei war?
Ich hatte kein Rachegefühl. Das ist vielleicht unverständlich. Es war eine Genugtuung für mich, dass wenigstens einer der Hauptverbrecher seine Strafe bekommen hat, aber ich war nicht zufrieden oder froh. Wer kann den Mord an meinen Eltern und meiner kleinen zehnjährigen Schwester wiedergutmachen? Oder an meiner ganzen Familie, fast 40 Menschen? Für jeden, der getötet wurde, sollte der Täter bezahlen müssen, aber das geht nicht, weil es tausende waren und man viele nicht gefunden hat. Einige leben noch heute, sie sind nicht jünger geworden, aber sie leben und werden in Ruhe sterben – oder krepieren.

Welche Bedeutung hat der Holocaust heute noch für die israelische Gesellschaft?
Leider leben wir heute noch mit dem Holocaust, auch unsere Kinder. Der Holocaust lebt mit uns zusammen. Nicht nur, dass man das nicht vergessen kann. Er fordert von uns, alles zu tun, was wir können, damit so etwas nie wieder passiert.

Beeinflusst das Motto  „Nie wieder” die Politik des Staates Israel?
Das hat gar nichts mit Politik zu tun, sondern mit physischer Existenz. Wir sind hier die ganze Zeit bedroht, physisch bedroht. Und wir haben keinen anderen Ausweg, als uns mit allen Mitteln zu verteidigen.

Genau dafür, dass es sich mit allen Mitteln verteidigt, wird Israel oft kritisiert, zum Beispiel im Umgang mit den Palästinensern oder beim Vorfall mit der Gaza-Flotte. Würden Sie sagen, dass dieses Verhalten wegen des Holocausts gerechtfertigt ist?
Die Gaza-Flotte ist eine Sache, und unsere Verteidigung eine andere. Wir wissen ganz genau, dass nicht alle Araber gegen uns Krieg führen wollen, aber die, die heute zum Beispiel im Iran an der Macht sind, möchten uns nicht nur vertreiben, sondern vernichten. Für uns ist das Verteidigung, wir möchten niemanden angreifen. Wir möchten Frieden schließen, auch wenn das den Verlust eines Teils unseres Landes bedeutet. Aber um Frieden zu schließen, muss man zwei haben, genau wie beim Tango. Der funktioniert auch nur mit zwei Leuten. Leider spüren wir, dass wir die einzigen sind, die einen wirklichen Frieden möchten.

Was denken Sie, wie lange  dauert es, bis der Frieden kommt?
Wir verlieren nicht die Hoffnung. Ich möchte, dass wenigstens meine Enkelkinder in Frieden leben können. Als ich 1947 als einziger Überlebender aus meiner Familie hierher kam, hoffte ich, dass ich hier eine ruhige und friedliche Zukunft für meine Kinder schaffen könnte. Heute bin ich skeptisch, ob ich das geschafft habe.

(Text und Fotos: Timo Brücken)

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