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„Auf geht’s Kinder, reißt aus!“

Ein zehnjähriges Kind reißt von zu Hause aus, um ein Superstar zu werden und die Eltern schert es nicht. Das klingt wie eine typische Folge „Familien im Brennpunkt“, ist aber die Geschichte von Ash Ketchum, dem Held der Pokémon-Saga. Auch ich wäre damals gerne wie er als Pokémontrainer durch die Welt gezogen – aus heutiger Sicht ein sehr zweifelhafter Lebensentwurf.
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PokémonWenn ich als Kind gefragt wurde, was ich später mal werden will, gab es nur eine Antwort: Pokémontrainer. Mit gerade einmal sechs Jahren konnte ich zwar weder lesen noch schreiben, doch das Pokémon-Fieber hatte mich schon seit dem ersten Gameboyspiel gepackt. Stunde um Stunde brachte ich damit zu, meinen „Glumanda“ zu trainieren und zu pflegen, bis es sich zu dem furchterregenden Drachen Glurak entwickelte und das höchste Level 100 erreichte.

Auf dem Weg, der beste Trainer der Welt, Kanto, zu werden, erkundete ich begeistert jeden Winkel des Spiels. Doch nicht nur ich wurde damals mit dem Pokémon-Virus infiziert, er verbreitete sich rasend schnell. Egal ob Sammelkarten, die Fernsehserie, Filme oder Plüschtiere, schon bald nach Erscheinen bevölkerten die kleinen „Taschenmonster“ weltweit die Medien und Kinderzimmer.

Die Ursprünge von Pokémon

Doch woher stammt diese dauerhafte Faszination? Denn eigentlich ist der vorgegebene Spielverlauf jeder neuen Edition sehr ähnlich. Egal ob in der Blauen Edition aus den 1990er Jahren oder den neusten Titeln, der Spieler macht sich mit seinem ersten Pokémon im Gepäck auf den Weg, die neue Welt zu erkunden, um der neue Champion zu werden.

Egal ob man nun auf dem Kontinent Kanto oder Jotho der jeweiligen Ausgabe landet, es müssen immer acht Arenaleiter und die Top 4 der Pokémon Liga bezwungen werden. Auch Freunde oder Bösewichte, sei es Team Rocket oder Team Magma, auf die man während der Reise trifft, nehmen die gleichen Rollen an, nur die Namen und Gesichter ändern sich. Selbst die Fernsehserie folgt diesem Konzept.

Dennoch begeistert dieser simple Aufbau seit mittlerweile über 15 Jahren Jung und Alt mit weltweit über 200 Millionen verkauften Spielen. Das Besondere an der Pokémon-Reihe ist die Möglichkeit für den Spieler, sich selbst mit der Spielwelt zu identifizieren. So ist der Hauptcharakter ein etwa zehnjähriges Kind ohne besondere Eigenschaften, völlig durchschnittlich. Dieses normale Pixelmännchen wird letztlich zum Spiegelbild des Spielers und vermittelt den Eindruck, leibhaftig dessen Abenteuer zu erleben.

Die Prägung des Charakters eines Pokémons

Während dieser Erlebnisse wächst dem Spieler das eigene Pokémon immer mehr ans Herz und wird zu einer Art virtuellem Haustier. So schaut man ihm beim Wachsen vom knuffigen „Welpen“ mit großen Kulleraugen zum unbesiegbaren Kämpfer mit immer neuen spannenden Fähigkeiten zu und baut in dieser Zeit immer mehr eine fast persönliche Beziehung zu ihm auf. Auf diese Weise werden Schiggy, Pikachu und Co. letztlich zum lieb gewonnenen Begleiter durch die faszinierende Spielwelt.

Zudem wird durch die riesige Zahl von mittlerweile 719 verschiedenen Pokémon, die Sammelleidenschaft der Spieler geweckt und man wird an das Spiel gefesselt. Man kann weiter daran arbeiten, alle Pokémon zu fangen, selbst wenn bereits das eigentliche Spielziel erreicht ist. Diese Aufgabe wird durch den Untertitel „Schnapp sie dir alle“ des Pokémon-Logos fast schon vorgegeben.

Jetzt allerdings, da meine aktive Zeit als Pokémontrainer mittlerweile lange vorbei ist, fällt mir immer wieder auf, dass die dortige Gesellschaft ziemlich zweifelhaft ist. Bildung scheint in dieser Welt eher zweitranging zu sein, denn Schulen außerhalb von Pokémontrainerschulen gibt es nicht. Statt einer allgemeinen Schulbildung und einer regulären Arbeit ist vielmehr die Laufbahn als Trainer das allgemeine Lebensziel.

Daher werden Kinder von gerade einmal zehn Jahren von den Erwachsenen dazu angehalten mit ihrem Pokémon sofort von zu Hause auszureißen und die große weite Welt zu erkunden. Die Eltern scheint diese Vorstellung nicht zu beunruhigen, vielmehr ist es auch für sie erstrebenswert, dass ihre Kinder diese wandernde Trainerlaufbahn einschlagen.

Dabei ist die Welt wirklich gefährlich, denn häufig laufen Reisende Gefahr, im hohen Gras durch wilde Pokémon angegriffen zu werden und überall sind Banditen wie Team Rocket unterwegs, die Passanten ausrauben oder betrügen. Dass sich sowohl Erwachsene als auch Kinder dessen bewusst sind, zeigt das Titellied mit der Textzeile: „ich kenne die Gefahr“.

Eine ganz andere Welt

Auch die Erwachsenenwelt bleibt rätselhaft, denn die wenigsten Menschen gehen einer geregelten Arbeit nach. Hier und da gibt es zwar Arbeitstellen, wie ein Kraftwerk, das die Arbeiter gemeinsam mit ihren Elektropokémon am Laufen halten, der Großteil der Erwachsenen reist aber ebenfalls als Pokémonforscher oder -Trainer durch die Welt.

Ein anderer Teil ist wiederum als Krimineller in dem mafiaartig organisierten Team Rocket tätig, das sogar unmissverständlich nach der Weltherrschaft greift. Dabei kann ihnen die Polizei kaum das Handwerk legen, weswegen diese Aufgabe immer wieder von Kindern erledigt werden muss. Einen großen Teil der täglichen Arbeit scheinen unbezahlte Pokémon-Arbeiter zu übernehmen. So muss beispielsweise eine Gruppe Wasserpokémon als Feuerwehr alle Löscharbeiten übernehmen. Das Ausbeuten der Pokémon scheint also System zu haben.

Auch die Kämpfe zwischen den „Taschenmonstern“ fordern sie bis an ihre Leistungsgrenzen und sind ziemlich brutal. Zuerst gewinnen die Trainer durch ein freundliches Verhalten gegenüber ihren Schützlingen deren Vertrauen, nur um sie dann im harten Training als Kampfmaschinen abzurichten.

Im Kampf selbst treiben sie die erschöpften Pokémon mit Kommandos bis zur Bewusstlosigkeit an, sich mit Feuer, Stromstößen und ähnlichen Attacken anzugreifen, um Ruhm zu erlangen und das Publikum für sich zu gewinnen. Dieses grausame Spektakel ist in der Pokémon-Welt der Sport Nummer eins und füllt riesige Stadien. In der Realität würden solche „Tierkämpfe“ wahrscheinlich sofort die Empörung breiter Teile der Gesellschaft auf sich ziehen.

Doch, auch wenn der Traum, Pokémontrainer zu werden, lange Geschichte ist und letztlich wohl nicht wirklich traumhaft erscheint, ist es immer noch schön, die alten Spiele auszupacken und gemeinsam mit den alten Pokémon-Begleitern nostalgisch zu werden. Letztlich ist das Ganze nur eine virtuelle Welt und geschadet hat mir das Abtauchen in das Pokémon-Universum nicht, denn ich bin weder von zu Hause ausgerissen, noch veranstalte ich heute illegale Tierkämpfe.

(Text und Foto: Maximilian Stenger)

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